Einleitung
Wer von Kolonialismus spricht, meint meistens die Zeit von etwa 1500 bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Für viele Schweizer:innen ist der Kolonialismus damit etwas, das heute der Vergangenheit angehört – und darüber hinaus nichts mit der Schweiz zu tun hatte, die ja nie über Kolonien verfügte. Aber was genau ist Kolonialismus?
Kolonialismus meint erstens die politische Herrschaft über ein Gebiet und der dort lebenden Menschen und Tiere sowie der dort vorkommenden natürlichen Ressourcen. Die Kontrolle übt eine landfremde Gruppe aus, und zwar ohne sich dabei selbst anpassen zu wollen oder die Interessen der dort bereits ansässigen Bevölkerung und lokalen Gegebenheiten zu berücksichtigen. Zunächst waren es europäische Länder, die aussereuropäische Regionen kolonisierten. Später beteiligten sich auch die USA und Japan daran. Die Schweiz hingegen übte nie eine solche politische Kontrolle über ein aussereuropäisches Gebiet aus. Deshalb mag es im ersten Moment tatsächlich so scheinen, als habe die Schweiz keine Kolonialgeschichte.
Kolonialismus umfasst aber nicht nur diese politische, sondern zweitens auch eine ökonomische Dimension. So begründeten die Kolonialmächte ihre Kontrolle über die Kolonien, indem sie behaupteten, die Menschen dort seien fundamental anders und entweder kulturell oder sogar biologisch unterlegen. Auf Basis dieses angeblichen Unterschieds rechtfertigten sie die wirtschaftliche Ausbeutung von Menschen und die rücksichtslose Nutzung von Ressourcen. Auch Individuen und Unternehmen aus Nationen ohne Kolonien hatten Zugang zu diesen kolonialen Märkten. In Zusammenarbeit mit Kolonialmächten konnten sie sich einen Wohlstand erwirtschaften, von dem viele noch heute profitieren. An diesem Geschäft waren auch Zürcher:innen beteiligt, etwa indem sie Überseeplantagen betrieben und dabei häufig auf die Arbeit von versklavten oder zwangsangestellten Menschen zurückgriffen. Andere investierten selbst in den transatlantischen Sklavenhandel.
Zürcher:innen profitierten dabei von einem Unrechtssystem, das ein fester Bestandteil kolonialer Herrschaft war. Gewalt gehörte in kolonialen Gesellschaftsordnungen zum Alltag. Sie entlud sich etwa in der Versklavung von Menschen oder dem brutalen Niederschlagen von Aufständen. Denn auch Widerstand gegen diese Ordnung, zumeist von jenen Menschen, die von der Gewalt betroffen waren, sind Teil der Kolonialgeschichte. Schweizer boten dabei ihre Dienste als Söldner an und halfen so anderen Kolonialarmeen, ihre Herrschaft zu verteidigen.
Die koloniale Eroberung der Welt schuf drittens auch ein machtvolles Denkgerüst, dass die systematische rassistische Abwertung von Mitmenschen beinhaltete und vielfach auch von der damaligen Wissenschaft bekräftigt wurde. Überhaupt nutzten Wissenschaftler (und vereinzelnd Wissenschaftlerinnen) die kolonialen Begebenheiten für sich. Auch Zürcher Ethnologen, Biologen oder Mediziner reisten damals in die Kolonien anderer europäischer Staaten, um dort ihre Forschung zu betreiben. Belege dafür finden sich noch heute beispielsweise in Schweizer Museen, in denen tausende ethnographische und zoologische Objekte und teilweise sogar menschliche Überreste liegen, die zumeist gewaltsam aus den lokalen Kontexten entwendet wurden.
Auch in den Schweizer Alltag hielten kolonial geprägte Vorstellungen der aussereuropäischen Welt Einzug, beispielsweise indem literarische Werke von Erfahrungen in den Kolonien erzählten oder Schulbücher das Weltbild der Kolonialmächte weitergaben. Bei öffentlichen Ausstellungen wurden Menschen aus den Kolonien zur Schau gestellt und sollten von den Besuchenden als untergeordnet "Andere" wahrgenommen werden. Diese sogenannten "Völkerschauen" waren bis ins 20. Jahrhundert hinein populär und wurden auch in Zürich veranstaltet.
Der Kolonialismus wirkte folglich tief in die europäischen Gesellschaften hinein: ökonomisch, politisch, sozial, kulturell und wissenschaftlich. Die Auswirkungen dieser kolonialen Vergangenheit beeinflussen bis heute wirtschaftliche und staatliche Strukturen sowie unseren Blick auf die Welt – auch in der Schweiz. Sie zeigen sich neben Wohlstandsunterschieden auch in musealen Darstellungen, in Schulbüchern, in der Entwicklungshilfe oder in vermeintlich harmlosen populären und kulturellen Bildern. Der Spalt, den der europäische Kolonialismus zwischen uns geschlagen hat, sorgt bis heute dafür, dass Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe oder Herkunft auch in Zürich rassistischen Strukturen und Handlungen ausgesetzt sind.
Der Kolonialismus hat also Spuren hinterlassen und Zürcher:innen waren auf vielfältige Weise an ihm beteiligt oder von ihm beeinflusst. Der Stadtrundgang verweist auf jene Orte in Zürich, wo diese Verwicklungen sichtbar werden.
*** Kolonialismus prägte auch unsere Sprache. Das Netzwerk bla*sh hat das Glossar "Sprachmächtig: Glossar gegen Rassismus" erarbeitet, in dem auch verletzende rassistische Fremdbezeichnungen erklärt werden und warum diese in rassismuskritischen Kontexten NICHT (mehr) verwendet werden sollten. ***